Crosswater Job Guide
Pressestimmen

 

 

 

 
 

 

Beschäftigungsmotor Sozialgesetzgebung: Von Hartz-Reformen, dem Leben der Anderen und Vollbeschäftigung

[Crosswater Systems] 16.8.2007

Es war die Quadratur des Kreises, die Erfindung des Perpetuum mobile, die Gewinnung von Gold aus Abfall oder einfach nur das Gelbe vom Ei, als zwei Männer mit stolzgeschwellter Brust vor just fünf Jahren im Berliner Französischen Dom vor laufende Kameras traten und publikumswirksam verkündeten, daß fortan die Arbeitslosenkrise gelöst wird. Stolz wurde der Bericht "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" der von Dr. Peter Hartz  geleiteten "Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit" präsentiert.

In selten beobachteter Bescheidenheit stellte sich die Hartz-Kommission gleich im Vorwort eine Schulnote aus: "Die Arbeit am Bericht war eine persönliche Herausforderung, das seit vielen Jahren wuchernde gesellschaftliche Übel der Arbeitslosigkeit jenseits der festgefahrenen Diskussionsfronten mit innovativen und konsensfähigen Vorschlägen wirksam und nachhaltig anzugehen. Die Kommission hat diese Herausforderung bewältigt".

Und Dr. Peter Hartz sprach Bundeskanzler Schröder gewiss aus dem Herzen, wenn er bei der Präsentation des Berichts und angesichts von über 4,04 Millionen versprach: "2 Millionen Arbeitslose in 3 Jahren ab heute, 11:00 Uhr". Musik in Schröders Ohren, hatte er doch immerhin 1998 angekündigt, er wolle sich daran messen lassen, ob seine Regierung die Zahl der Arbeitslosen auf unter 3,5 Millionen senken könne. 

Dermaßen überzeugt von der eigenen Weisheit schaffte es die Hartz-Kommission zahlreiche innovative Begriffe zu definieren - wie weiland George Orwell in der Politik-Utopie "1984" als "Neusprech" bezeichnete Gedanken-Manipulation. In der Folge sollten der Bevölkerung gegenüber mit diesen Formulierungen  die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Brisanz des Arbeitsmarktproblems entschärft werden. So wurde ein neues Vokabular der Arbeitsmarktreformen geschaffen.

Neusprech à la Hartz:
Arbeitsamt-TÜV - Benchmarking zwischen Arbeitsämtern - Vermittlungsoffensive - Profis der Nation - Kunden-JobCenter - Quick-Vermittlung - Neue Zumutbarkeit - Ausbildungs-Zeit-Wertpapier - BridgeSystem - PersonalService-Agenturen - Ich-AG - Familien-AG - Ein-Euro-Job - Mini-Job - JobFloater

Quelle: Bericht der Hartz-Kommission, 2002

Ernüchternde 5-Jahres-Bilanz

Fünf Jahre nach der denkwürdigen Hartz-Präsentation berichtet die Presse pflichtgemäß über die Irrungen und Wirrungen der Arbeitsmarktreformen, jedes Medium nach seiner Couleur. So zog der DGB eine verheerende Bilanz der Hartz-Gesetze, die FAZ-Redakteure Sven Astheimer und Nico Fickinger fassten die volle Problematik in einem ganzseitigen Bericht (FAZ vom 16. August 2007) unter der Überschrift "Von der Jahrhundertreform zum Milliardengrab" zusammen. Und FAZ-Mitherausgeber Holger Steltzner kommentierte in einem Leitartikel auf der Titelseite so:
"Die stetig steigende Zahl staatlicher Transferempfänger verändert das politische Geschäft. Mehrheiten lassen sich dort leichter finden als in der Gemeinschaft der Leistungsträger, die zusehends in unterschiedliche Gruppen zerfällt. Einer kleinen Schar von Spitzenverdienern mit oft unverständlichen Einkommenszuwächsen steht die große Mittelschicht der Normal- oder Geringverdiener gegenüber. Diese müssen seit Jahren mit kaum steigenden Nettolöhnen auskommen und die Hauptlast der Umverteilung tragen. Bei den meisten von ihnen ist der wirtschaftliche Aufschwung noch nicht angekommen. Sie vor allem verbinden die Furch vor dem sozialen Abstieg mit dem Namen Hartz."

Gesichter der Arbeitsmarktreform:
Wolfgang Clement, Peter Hartz, Gerhard Schröder, Frank Weise

Der soziale Abstieg und der Sozialdetektiv

Neben dem sozialen Abstieg sollte noch ein anderer wichtiger Aspekt das Gesicht der Hartz-Reformen prägen: die "Familienfreundliche Quick-Vermittlung". Die Hartz-Kommission schrieb dazu: "Arbeitslosigkeit bekommt ein Gesicht. Mit der intensiven Betreuung des Arbeitslosen durch den verantwortlichen Fallmanager rückt der einzelne Mensch und seine persönliche Lebenslage in den Mittelpunkt." Doch die Hartz-Kommission hatte die Rechnung ohne die Sozialbürokratie und deren eigenen Vorstellungen der Realität gemacht. Mit dem Instrument des Hausbesuches durch Ermittler der Arbeitsagenturen praktizieren die Bürokraten ein Verfahren, das besorgniserregend an die Zustände im Oscar-preisgekrönten Film  "Das Leben der Anderen" erinnert. Das "Leben der Anderen" schildert mit Hausbesuchen und Überwachungen der Stasi die Realität in der ehemaligen DDR, Hausbesuche und Überwachungen durch Ermittler der Arbeitsagenturen sind die Realitäten in einer Demokratie. Diese Sachlage hat sogar in Anlehnung an populäre Vorbilder wie Sherlock Holmes oder Colombo eine neue Berufsbezeichnung geprägt: Sozialdetektiv.

Eine andere Sichtweise

Rainer Roth

Rainer Roth

Rainer Roth, Professor für Sozialwissenschaften, lehrt Soziologie mit dem Schwerpunkt Armut und Sozialhilfe an der Fachhochschule Frankfurt. Er ist Vorsitzender von Klartext e.V., einem Verein, der dafür eintritt, dass diejenigen, die Arbeitslosigkeit, Armut und Staatsverschuldung verursachen, auch für die Folgen geradestehen. Er verkörpert eine Gegenstimme zur Politik und der offiziellen Sozialbürokratie.

Roth ist Autor von "Nebensache Mensch, Arbeitslosigkeit in Deutschland" und  "Leitfaden Alg II/Sozialhilfe" (zusammen mit Harald Thomé). An der Fachhochschule Frankfurt leitet er die AG TuWas.

Mit seinen fundierten Analysen und pointierten Äußerungen (""Wer die Agenda 2010 für sozial ausgewogen hält, lässt sich oder will uns mit Schröder unverBlümt verKohlen") brachte er den damaligen Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement in die Bedroullie, der ihm kurzerhand und pauschalierend eine "Beihilfe zum Missbrauch sozialer Leistungen" vorwarf. Roth konterte fundiert und publizierte das Buch "Sozialhilfemissbrauch - Wer missbraucht eigentlich wen?"

In einem Vortrag in in Osnabrück am 08.11.2006  berichtete Professor Roth aus dem Leben der Anderen und stellte zwei Fälle vor.

Fall 1 aus dem Leben der Anderen

Wer Rechte in Anspruch nimmt, missbraucht den "Sozialstaat"

"Mit ihrem Partner lebt (Brigitte Holthaus) seit Jahren im zweiten Stock einer belebten Straße im Zentrum einer Ruhrgebietsstadt. Der Mietvertrag weist beide als gemeinsame Mieter der Wohnung aus, beide sind auf dieselbe Adresse angemeldet. Aber Brigitte Holthaus mag nicht einsehen, dass sie damit ( !!! ) keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II hat.

(Kommentar: Mit dieser Begründung kann auch Wohngemeinschaften jegliche Leistung verweigert werden. Das ist rechtswidrig. )

Mit einer langen Ausgabenliste ihres Lebensgefährten will sie belegen, dass er nicht in der Lage sei, für sie einzustehen. Frau Holthaus gibt an: "Wohngemeinschaft - keine finanziell Unterstützung".

Das ist glatt gelogen, wie sich beim Prüfbesuch herausstellt. (Kommentar: Mit Hausbesuchen kann man keine eheähnliche Gemeinschaft feststellen, so Urteile von Sozialgerichten.)

Günter Meyer, ihr Lebensgefährte, kommt mit nacktem Oberkörper aus dem Ehebett (Kommentar: Sind die beiden also verheiratet? Allenfalls wäre es ein eheähnliches Bett.) , die Saugnäpfchen eines Medizingeräts kleben auf seiner Brust, das dazugehörige Gerät steht auf der Konsole im Schlafzimmer. Standhaft behauptet er, auf der Schlafcouch im Kinderzimmer zu schlafen. Dort finden sich jedoch keine persönlichen Gegenstände. (Kommentar: Ob Herr Meyer im Bett von Frau Holthaus schläft oder nicht, ist völlig unerheblich, weil intime Beziehungen noch keine eheähnliche Gemeinschaft mit wechselseitigen Verpflichtungen wie in einer Ehe begründen, so das Urteil des BVerfG.)

Die Lebensmittel im Kühlschrank werden gemeinsam aufbewahrt (Kommentar: für die Bundesregierung beruht die Ehe auf der gemeinsamen Nutzung des Kühlschranks und des Betts. Daraus geht jedoch nicht hervor, dass Herr Meyer sein Einkommen und Vermögen voll für Frau H. einsetzt. So die Rechtsprechung.), ein eigenes Zimmer kann der Lebensgefährten nicht vorweisen. (Kommentar: Und deswegen gibt er sein Geld vorrangig für Frau H. aus? Ob er sein Geld vorrangig für sich ausgibt, interessiert die Behörde überhaupt nicht. Wenn sie auf dem Boden der Verfassungsmäßigkeit, definiert durch Urteile des Bundesverfassungsgericht, stehen wollte, müsste sie das aber.) So fällt das Urteil des Prüfteams eindeutig aus: Wieder mal ein Fall von versuchtem Sozialmissbrauch."

(Kommentar: Eindeutig wieder mal ein Fall Rechtsbruch durch eine Behörde. Offensichtlich sind Frau H. alle Leistungen verweigert worden, nur weil ein Mann in ihrer Wohnung wohnt. Da reicht aber als Beleg für Unterhaltszahlungen wie in einer Ehe nicht aus.)

Clement (vor seiner Ministerzeit Botschafter der von der Metallindustrie finanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) ist Sprachrohr der Interessen des Kapitals, wie sie durch Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) formuliert werden:" " Künftig muss es genügen, wenn zwei zusammen leben und sich Bett und Schrank teilen ." (focus Nr. 1/2006) Bzw. einen Kühlschrank.

Das stellt den "Geist" der Urteile des BVerfG auf den Kopf. Die Behörden werden durch die Bundesregierung ermuntert, sich darüber hinwegzusetzen und ihr eigenes Gesetz zu machen. Und Bundesregierung und Bundestag verfälschen mit dem "Fortentwicklungsgesetz" das Urteil so, dass ein Zusammenleben von einem Jahr ausreicht, um zwei Partner zwangszuverheiraten und Unterhaltszahlungen wie in einer Ehe zu unterstellen.

Fall 2 aus dem Leben der Anderen

Das Übliche: Gesetzesübertretungen durch Behörden

Frau Müller (fiktiver Name) absolviert in einem Berufsförderungswerk eine Ausbildung, wohnt dort die Woche über in einem Wohnheim und, da dieses an Wochenenden geschlossen ist, ansonsten in einem 100 km entfernten Landkreis in Hessen.

a) Sie hat eine Erstausstattung für diese Wohnung bekommen, nachdem sie aus dem Ausland zurückgezogen war, allerdings auf Darlehensbasis. Das Darlehen wird mit 5 Euro im Monat getilgt. Erstausstattungen für die Wohnung auf Darlehensbasis sind laut _ 23 SGB II illegal. Sie vom Regelsatz abzuziehen ebenso.

Begründung des Sachbearbeiters: Darlehen deshalb, weil sie aus dem Ausland zurückgekommen sei und die Übernahme von bestimmten Möbelstücken verweigert hätte, die schon in der Wohnung gestanden hätten. Ersteres ist gar kein Grund, letzteres kann allenfalls zu einer geringeren Erstausstattung führen, begründet aber kein Darlehen.

b) Die Kaution für diese Wohnung wurde von der Behörde übernommen, ebenfalls auf Darlehensbasis. Zur Rückzahlung des Darlehens werden zehn Euro mtl. vom Regelsatz abgezogen.

Die Übernahme einer Kaution auf Darlehensbasis hatte bis zum 1.4.2006 keine Rechtsgrundlage, war also illegal. Seitdem ist das legal. Die Rückzahlung eines Darlehens wegen einer Kaution dagegen ist auch heute nicht im SGB II vorgesehen, also illegal.

c) Die Umschülerin wird während der Woche im Wohnheim des Bfw verpflegt, an den Wochenenden muss sie sich zu Hause verpflegen. Die Behörde zieht ihr für Verpflegung 202,75 Euro mtl. vom Regelsatz ab. Grundlage ist eine sogenannte Sachbezugsverordnung.

Frau Müller wird mit dem Abzug für den ganzen Monat auch das Geld entzogen, sich am Wochenende selbst verpflegen zu können. In der Sachbezugsverordnung steht, dass der Verpflegungsaufwand tageweise oder sogar mahlzeitenweise festgestellt werden muss. Ihr hätten also nach den eigenen Bestimmungen der Behörde nur etwa 150 Euro abgezogen werden dürfen.

Wie aber kann man 150 Euro für 22 Tage Verpflegung abziehen, wenn im Regelsatz von 345 Euro selbst für 30 Tage Essen und Trinken nur rd. 114 Euro enthalten sind?

Der Landkreis ist eine sogenannte Optionskommune, in der die Bundesagentur für Arbeit (BA) nichts zu sagen hat. Die BA rechnet für Vollverpflegung nur 120,75 Euro pro Monat an, nicht 202,75 Euro. Es heißt, die Optionskommunen seien besser geeignet, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, weil sie näher am Menschen seien. Je näher die Behörde am Menschen ist, desto mehr kann sie ihm anscheinend illegalerweise vom Regelsatz abziehen, weil sie sich nicht an zentrale Vorgaben halten muss.

Belassen wir Frau Müller gnädigerweise wenigstens 3,79 pro Tag für je 4 Samstage und Sonntage (das ist das Regelsatzniveau), könnten also allenfalls 83 Euro vom Regelsatz abgezogen werden, nicht 202.75 Euro. Die Behörde zieht rd. 120 Euro zu viel ab. Sie verweigert Frau Müller nicht nur Geld zum Essen an den Wochenenden, sondern auch alle im Regelsatz enthaltenen Bedarfe für Möbel, Kleidung, Verkehrsmittel und Kommunikation.

d) Im Bescheid steht, dass die 202,75 Euro Einkommen seien. Von jedem Einkommen volljähriger Personen muss die Versicherungspauschale von 30 Euro abgezogen werden. Das geschieht nicht. Offensichtlich gibt die Software das nicht automatisch an (warum wohl?) und der Sachbearbeiter weiß es auch nicht.

Die 202,75 Euro sind aber gar kein Einkommen, sondern eine bedarfsmindernde Leistung. So jedenfalls die BA über die Verpflegungskosten in Einrichtungen. Es gibt jedoch im SGB II im Gegensatz zum SGB XII keine Bestimmung, die eine Senkung des Regelsatzes vorsieht, wenn ein Bedarf anderweitig gedeckt ist. Genausowenig wie es keine Bestimmung gibt, die eine Regelsatzerhöhung bei höherem Bedarf vorsieht.

Wenn Behörden meinen, dass in Einrichtungen nicht der volle Regelsatz ausgezahlt werden soll, dann müssen sie auf eine Gesetzesänderung hinwirken. Das machen aber weder die Optionskommunen, noch die ARGE's. Sie missachten das geltende Gesetz und machen ihr eigenes.

e) Frau Müller bekommt nicht die vollen Unterkunftskosten bezahlt, sondern 20 Euro weniger, da ihre Miete von 370 Euro nicht als angemessen gilt.

Das alles ist nur ein Teil der Probleme, mit denen sie sich während ihrer Ausbildung herumschlagen muss. Probleme durch eine Behörde, die den gesetzlichen Auftrag hat, ihre Integration in den Arbeitsmarkt zu fördern und nicht zu behindern.

Frau Müller hat statt 345 Euro 108 Euro im Monat zum Leben übrig, und wird werktags mit Naturalien verpflegt. Sie lebt weit unterhalb des Existenzminimums. In diesem Klima soll sie lernen und ihre Ausbildung erfolgreich beenden.

Bei den Rechtsbrüchen gehen auf das Konto des Sachbearbeiters die Erstausstattung als Darlehen und die monatliche statt tageweise Anrechnung der Verpflegungskosten. Ansonsten vollstreckt er nur die Richtlinien des Landkreises. Ihm die Schuld anzulasten, greift im Übrigen voll daneben, denn die Behörde korrigiert ihn nicht, sondern deckt ihn.

Frau Müller gehört zu denen, die sich verteidigen können. Sie hat unseren Leitfaden entdeckt. Sie schreibt Widersprüche, telefoniert, und macht klar, dass ihr die Mittel für ihre Existenz entzogen werden. Sie bedroht und beschimpft dennoch niemanden, bleibt sachlich. Die Behörde, die ein kundenfreundliches Dienstleistungsunternehmen sein will, reagiert aber seit Monaten nicht und lässt Frau Müller schmoren. Damit zwingt sie sie, auch noch ein Gerichtsverfahren gegen die Behörde zu betreiben. Statt Lernen steht der Kampf ums Überleben bei ihr auf der Tagesordnung.

Die Propaganda redet von Fördern. Im Wirklichkeit steht das Eigeninteresse der Behörde im Mittelpunkt, unter dem Bruch von Gesetzen möglichst wenig auszugeben.

Frau Müllers einziger bisheriger Erfolg: die illegale Rückzahlung der Kaution wird von 30 Euro mtl. auf zehn Euro vermindert.

Frau Müller kann nicht ohne fremde Hilfe überleben. Ein freundlicher Spender schenkt ihr Geld und überweist drei Monate lang 300 Euro auf ihr Konto. Die Behörde hat das entdeckt, weil sie bei Folgeanträgen die Kontoauszüge verlangt, obwohl das laut einem Urteil des Landessozialgerichtes Hessen rechtswidrig ist. 900 Euro Einkommen nicht anzugeben, ist Betrug, d.h. eine Gesetzesübertretung und gilt als Missbrauch. Frau Müller muss zehn Euro monatlich zurückzahlen. Das kürzt ihren Regelsatz noch weiter. Sie sieht das ein, während die Behörde nach wie vor nichts einsieht.

Das hier Geschilderte passiert in vielfältigen Formen tagtäglich in den Arbeitslosenbehörden. Im Grundgesetz steht überraschenderweise:" Die vollziehende Gewalt ... (ist) an Gesetz und Recht gebunden. " (Art. 20 Abs. 3 GG) Davon kann nach der Einführung von Hartz IV weniger die Rede sein als jemals zuvor.

Die Saga der Frau Müller aus obigem Beispiel geht weiter. Ein Ermittler der Landkreis-Optionskommune hat sich zum Hausbesuch angemeldet und schafft es ganz noncholant, gleich gegen mehrere Punkte einer Dienstanweisung zur Ausgestaltung von Hausbesuchen zu verstoßen, wie sie in den Hinweisen des ULD (Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein) zur datenschutzgerechten Ausgestaltung von Hausbesuchen durch die Sozialleistungsträger im Bereich der Leistungsgewährung nach den Vorschriften des SGB II und SGB XII ausformuliert wurden.

Der Sozialdetektiv kommt unangekündigt 20 Minuten früher als vereinbart zum Hausbesuch, weist sich nicht unaufgefordert durch seinen Dienstausweis aus, kommt alleine in die Wohnung einer jungen Frau und nicht wie vorgeschrieben im Team mit einer anderen Mitarbeiterin. Es wird kein Prüf-Protokoll des Hausbesuchs erstellt, deshalb erhält Frau Müller auch keine Kopie davon. Ein späteres Verlangen nach Akteneinsicht beim zuständigen Fallmanager wird abgelehnt, Frau Müller kann demzufolge von ihrem Recht einer etwaigen Gegendarstellung kein Gebrauch machen. Obwohl eine routinemäßige Befragung Dritter, z.B. der Nachbarn nicht zulässig ist, hat der zuständige Ermittler mit Frau Müllers Mitbewohnern im Haus längere Zeit "geplaudert".

Mittlerweile hat sich der Fall der Frau Müller zu einem Verfahren mit 14 aktuell laufenden Einsprüchen bzw. Beschwerden ausgeweitet, einige befinden sich seit über 12 Monate in der Bürokratie-Warteschleife. Die eingeschaltete Rechtsanwältin kann nur noch versuchen, die Sozialbehörde mit einer "Untätigkeitsbeschwerde" auf Trab zu bringen. Das alles setzt natürlich für die Betroffenen voraus, daß das zuständige Amtsgericht auf Antrag eine Prozeßkostenhilfe genehmigt - so ist in dem Kreislauf die Beschäftigung garantiert.

Beschäftigungsmotor Sozialbürokratie

Wie die FAZ am 23. Juli 2007 mit dem Titel "Hartz-VI-Klageflut am Berliner Sozialgericht" meldete, seien Deutschlands größtes Sozialgericht in 55% aller Fälle mit Hartz-IV-Klagen beschäftigt. Fast die Hälfte (45%) aller Hartz-IV-Klagen sind erfolgreich, in 83% aller Fälle akzeptieren die beklagten Job-Center die von Richtern vorgeschlagenen einvernehmlichen Einigungen. In zehn bis zwanzig Prozent der Fälle seien die Job-Centers untätig. Das Berliner Sozialgericht erledigt ein Eilverfahren in durschnittlich 39 Tagen, bei normalen Verfahren steige die Verfahrensauer auf 12,77 Monate. Im ersten Halbjahr 2007 verzeichnete das Berliner Sozialgericht 14 126 Klagen zum Thema Hartz-IV.

Es kann realistischer Weise erwartet werden, daß in jedem Einzelfall einer Hartz-IV-Klage mehrere handelnde Personen involviert sind:
(1) der Sozialhilfe/ALG-II-Empfänger,
(2) sein Fallmanager bei der Arbeitsagentur,
(3) der Vorgesetzte des Fallmanagers,
(4) der Rechtsanwalt des Betroffenen,
(5) der Richter beim zuständigen Amtsgericht wegen der Genehmigung der Prozesskostenhilfe,
(6) der Beschwerde-Bearbeiter bei der Arbeitsagentur weil  Beschwerden nicht vom zuständigen Fallmanager selbst behandelt werden,
(7) Dem Vorgesetzten des Beschwerde-Bearbeiters,
(8) der zuständige Klagesachbearbeiter beim Sozialgericht sowie
(9) der Richter beim zuständigen Sozialgericht.

Im Bundesdurchschnitt dauern Erstinstanzliche Verfahren vor den Sozialgerichten der Länder durchschnittlich 12 Monate.

  Grafik: Crosswater Systems, Quelle: Statistisches Bundesamt VI B - Rechtspflegestatistik

Der Gesetzgeber hat den betroffenen Beteiligten eine Hypothek ungeahnten Ausmaßes hinterlassen. Die Zahl der Erstinstanzlichen Verfahren vor den Sozialgerichten der Länder hat sich unabhängig vom Gegenstand der Klage von 239.103 (1996) auf 363.827 im Jahre 2006 erhöht, eine stolze Steigerung von 52 Prozent. Darüber hinaus klafft die Schere zwischen den Neuzugängen an Klagen und den erledigten Klagen mit steigender Tendenz immer weiter auseinander - die Vollbeschäftigung in der Sozialbürokratie ist auf Jahre hinweg gesichert.

Wenn nach den leidvollen Großprojekten der Republik wie TollCollect, Rechtschreibreform oder Arbeitsmarktreform die Politiker in Sonntagsreden mehr Transparenz und eine effizientere öffentliche Verwaltung fordern, gehen sie selten mit tatkräftigem und gutem Beispiel voran. Es bleibt bei den Sonntagsreden, der graue Montag kommt und damit auch die bittere Realität.

Epilog

Was ist aus den schönen Versprechungen im Französischen Dom am 16. August 2002 geworden? Drei Jahre später, im August 2005, waren in Deutschland 4.728 Millionen Arbeitslose gemeldet, Peter Hartz erlebte sein persönliches Waterloo und schied im Zusammenhang mit der VW-Korruptionsaffaire aus dem VW-Vorstand aus. Bundeskanzler Schröders "Meßlatte der Arbeitslosigkeit" wurde im kollektiven Demokratie-Langzeitgedächtnis von den Fluten des Oder-Hochwassers weggeschwemmt und in der darauffolgenden Bundestagswahl im September 2005 konnten oder wollten sich die Wähler nicht mehr daran erinnern. Die von den Arbeitsmarktreformern hinterlassene kostenträchtige Sozialbürokratie ist geblieben.

 Weiterführende Links:

Thomas Hirschboek: Sozialhilfemißbrauch in Deutschland aus juristischer Sicht. Dissertation. 2004

Vortrag von Professor Rainer Roth: 
Missbrauch bei Alg II/Sozialhilfe - Wer missbraucht hier wen?

Sozialgesetz-Mobbing: Stellungnahme zum Vordruck des Jobcenter Coburg Land, der von allen ALG II-Beziehern bei der Antragstellung zu unterzeichnen ist.
http://www.tacheles-sozialhilfe.de/Aktuelles/2007/coburger_erklaerung_stellungnahme.aspx
 

Präsentation des Berichts der Hartz-Kommission:
Der Video-Bericht bei Phoenix.

SPIEGEL Online: Das ABC des Arbeitsmarkts
http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,382734,00.html

+++ Ein Presse-Service von Crosswater Systems Ltd. zu den Themengebieten e-Recruiting, Jobbörsen, Arbeitsmarkt, Personaldienstleistungen, Human Resources Management. +++
Technorati Profile